Tag 2

21. Juli 2022: bewölkt bei 28 Grad, Regen angekündigt, abends trocken bei 16 Grad          

Programm

Wahrnehmungswanderung

Pläne sind bekanntlich dazu da, geändert zu werden. Da das Wetter an diesem zweiten Tag durchwachsen ist, beschließen wir, das Programm umzuwerfen und mit einer kleinen Naturerfahrung und unseren Workshops einzusteigen.

Vom Haus Hammer aus gehen wir in den Wald, den wir mit allen Sinnen erfahren wollen – alleine und in Zweierteams. Am Fuß des dicht von Bäumen bestandenen Hügels folgt die erste Aufgabe des Tages: schweigend den ersten Anstieg zu erklimmen und die Geräusche um uns herum wahrzunehmen. Was hörst du? Die Steine, die unter den Turnschuhen wegrutschen. Die Straße in der Nähe, ein Auto. Das Rauschen der Blätter. Ein Vogel. Das Schnaufen der anderen. Ein Summen am Ohr.

Wir gehen weiter und widmen uns dem nächsten Sinn. „Die Inuit haben viele Wörter für Schnee“, sagt Christine Wechau. In der Wüste findet man unterschiedliche Brauntöne – und in Deutschland? Da gibt es viel Grün. Wir wollen genau hinsehen. Wie viele unterschiedliche Grüntöne siehst du und wie würdest du sie benennen? Tannengrün, grasgrün, moosgrün, hellgrün, petrolfarben

Es geht weiter den Berg hinauf. Was spürt ihr? Eine Wetterveränderung, Wind, es wird kühler, Anstrengung, die Wadenmuskulatur. Auf die Frage, wer jetzt lieber Mathe machen würde, recken sich erstaunlich viele Hände in die Höhe. Am obersten Punkt angekommen, gehen wir in Zweierteams zusammen und bekommen eine Augenbinde. Die eine führt, der andere wird geführt. Es geht darum, Vertrauen aufzubauen, sich aufeinander einzulassen und Verantwortung füreinander zu übernehmen. Manchen fällt es leichter, zu führen und die Kontrolle zu behalten, andere ziehen es vor, die Verantwortung abzugeben und sich leiten zu lassen – die Wahrnehmungen sind ganz unterschiedlich. Gemütlich geht es schließlich über die Wiesen zurück. Letzte Aufgabe: barfuß zurückzulaufen und die verschiedenen Untergründe unter den bloßen Sohlen zu erspüren.

Brief an mich selbst

Nach der Mittagspause beginnen die Workshops, die parallel in Gruppen von sechs bis sieben Personen stattfinden. Nils Mohl nutzt die Methode des Automatischen Schreibens, damit die Gruppe in einen Schreibfluss gelangt. Die Erfahrungen des Vormittags und des Vortages werden in einem Brief an sich selbst verarbeitet. Er ermutigt die Jugendlichen, einfach loszulegen und ohne viel nachzudenken, das aufzuschreiben, was ihnen in den Sinn kommt. Immer wieder wirft er Worte in den Raum, die sogleich verarbeitet werden sollen. Hitze, Fotos, Herzklopfen, Seite 27! Und dann dürfen die Teilnehmenden eigene Worte in die Runde geben. Zimmer, Pizza, Stift, Uhr! Es entstehen ganz unterschiedliche Texte, die das Erlebte verarbeiten. Die eine oder der andere verpackt die Worte sogar in eine eigene Geschichte, die in einer anderen Welt spielt. Die Briefe werden in einen Umschlag gesteckt und mit den Adressen der Schülerinnen und Schüler versehen. Noch am selben Tag landen die Briefe in der Post und warten auf die Jugendlichen, wenn sie in ein paar Tagen wieder nach Hause kommen.

Automatisches Schreiben mit Nils Mohl

Gedichtschnipsel: Goethe trifft Fellner

Pierre Jarawan arbeitet mit Gedichtschnipseln. Dafür hat er zwei Gedichte aus unterschiedlichen Epochen ausgewählt. Johann Wolfgang von Goethes „Immer und Überall“ trifft auf Karin Fellners „[nimm diese kenternden tage]“, und heraus kommen eigene Kreationen der Jugendlichen.

Es fordert neue Lieder;
in der hohlform der stadt
streichen Musen Bach und Tale;
Ja dringend hoch zur frischen Luft
doch dann kam das Watt und machte es platt

Amin und Ajdin

Nimm diese Tage tief in den Bergesgrüften,
geniesse Bach und Tage, tausend Male.
in der Stadt ist der Asphalt glatt…

Konstantin, Sam und Filip

we’re closed.
Komme wieder wenn die Zeit auch tausend Male flieht.

Sumaya und Diana

Wie entstehen diese Gedichte?
Die Jugendlichen sind angehalten, Teile aus den beiden vorgegebenen Gedichten von Goethe und Fellner herauszunehmen und zu etwas Neuem zusammenzubauen. Die kleinste Einheit ist der Buchstabe. Die größte Einheit ist der Vers. „Ihr habt den gleichen Wortschatz wie Goethe oder Karin Fellner. Ihr kennt dieselben Worte“, sagt Pierre und ermutigt die Jugendlichen loszulegen. Sprache ist Material, die Frage ist nur, welche Form sie annimmt. Und so entstehen innerhalb von einer Stunde ein Dutzend Naturgedichte wie die hier zitierten von Sumaya, Diana, Konsti, Sam, Filip, Amin und Ajdin.

Nature Art

Um Bewegung in die Sache zu bringen und die Kreativität der Jugendlichen noch einmal anders anzusprechen, haben wir zudem einen Nature Art-Workshop unter Leitung von Christiane Werchau angeboten. Nature Art ist Kunst in und mit der Natur. Benutzt werden Materialien, die vor Ort zu finden sind. Eine Kunst, bei der entweder Objekte kreiert oder schon vorhandene Strukturen der Umwelt herausgearbeitet werden. Der Aspekt der Vergänglichkeit spielt bei Nature Art von Anfang an eine große Rolle. Ebenso, dass sie niemandem gehört, nicht gekauft oder transportiert wird und überall entstehen und vergehen kann. Jede Gruppe bekommt die Aufgabe, ein Bild aus Materialien zu gestalten, die sich auf dem Gelände befinden. Vorgabe ist lediglich das Thema – in unserem Fall: Mandala, Herz und Kunst im Rahmen. Die Kunstwerke bestehen und vergehen im Laufe der Zeit. Ihre Schönheit ist von kurzer Dauer und beeindruckt nicht minder. Die Einheit fordert die Jugendlichen noch einmal auf, kreativ zu werden und mit Bildern Geschichten zu erzählen.

Nach dem Abendessen treffen wir uns wieder am Lagerfeuer. Die Gedichte, die am Nachmittag entstanden sind, werden vorgelesen, und wir fahren mit der Vorstellung von sieben weiteren Büchern aus der Bücherbox fort.

Bücher des Tages

„Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ – John Green
 „Lord of London“ – Louise Bay
 „Touch of Darkness“ – Scarlett St. Clair
„Wie ein einziger Tag“ – Colin Huber (doppelt)
„Die Geschichte des Wassers“ – Maja Lunde
„Last Exit: Das Spiel fängt gerade erst an“ – Mirjam Mous