Emma

Die Straße liegt einsam vor mir. Staub wirbelt über den Asphalt. Ein Schild steht mitten in der Wüste. Der Lack blättert ab.

Vom Himmel scheint die Sonne brennend heiß.

Mein Hals ist trocken. Der Wassermangel lässt meine Sicht verschwimmen. Staub brennt in meinen Augen, lässt sie tränen. Eine Windböe weht vertrocknete Erde unter meinen Mundschutz. Der Stoff meines schwarzen Kopftuchs flattert um mein Gesicht und kitzelt mich im Nacken.

Wo ist es?

Wo ist Eden?

Eine Fata Morgana. Ganz sicher. Die graue Mauer weit vor mir kann unmöglich echt sein. Eine Fantasie, eine Vorstellung, mehr nicht. Das Denken fällt mir schwer. Mein Kopf weiß, dort ist nichts, aber mein Herz klopft wild in der Hoffnung, dass das mehr als nur Wunschdenken ist.

Meine Füße verknoten sich. Jeder Schritt ist ein Stolpern. Unkontrolliert taumel ich auf das graue Etwas zu, das wahrscheinlich doch nichts ist.

Ich atme meinen heißen Atem. Es ist seit Stunden dieselbe stickige Luft. Sie findet keinen Weg aus der Maske.

Sie ist riesig die graue Mauer, ragt weit in den Himmel.

Schwarze Flecken kriechen über mein Sichtfeld. Mein Atem geht flach, ist kaum mehr als ein Hauch. Meine Hände zittern. Meine Lippen brennen, sind zerrissen und angeschwollen.

Ich strecke in letzter Kraft meine Hand aus, ganz vielleicht ist sie doch echt. Fast berühre ich den grauen Stein, da nimmt mich das Schwarz ganz ein und ich sinke in dunkle Leere.

Da ist etwas kaltes, nasses. Es läuft mir in den Mund.

Wasser!

Ich will meine Augen öffnen, Sand und Staub verkleben sie.

Nur ganz langsam lassen sie sich öffnen. Meine Lieder sind schwer.

Da ist jemand und beugt sich über mich!

Ich bin tot, ganz sicher.

Es muss ein Engel sein, der mich jetzt zu sich holt.

Er hat ein hoch moderne Atemmaske, sie bedeckt sein halbes Gesicht. Seine schwarzen Augen sind das einzig Erkennbare. Er hat noch nicht gemerkt, dass ich wach bin. Konzentriert darauf mir Wasser in den Mund zu geben.

Ich muss husten. Der Engel schreckt auf.

Ein weiteres Husten setzt sich in meinem Hals fest.

Meine Brust krampft sich zusammen.

Ich versuche mich aufzurichten.

Fuck!

Ein greller Schmerz durchfährt mich.

Langsam hilf der Engel mir mich hinzusetzten.

Er ist alleine.

Verwirrt schaue ich mich um. Der Himmel ist enttäuschend. Genau die gleiche Wüste und der aufgebrochene Erdboden.

„Ich hatte mehr erwartet.“ Meine Stimme kratzt schmerzhaft in meinem Hals.

Er schaut mich verwirrt an.

„Ich bin doch tot? Und du, du bist ein Engel.“

Verlegen räuspert er sich.

„Ähm nein.“

„Ich bin nicht tot?“

„Nein bist du nicht. Du bist hinter den Mauern.“

„Wo?“

„Du bist angekommen. Wir sind in Eden.“

Der Engel hebt mich hoch.

Sein schwarzer Umhang flattert um uns herum.

Aus dem Schatten der Mauer kommen viele bewaffnete Menschen. Sie tragen alle schwarze Umhänge und Atemmasken. Schwarze Leinen-Hosen festgebunden über festen Stiefeln. Tuniken bestickt mit einer kleinen Pflanze. Allesamt vollständig in Schwarz.

Ihre Gewehre zielen auf mich. Der Engel hält mich noch immer in seinen Armen. „Adam.“ Das Wort kenne ich es? Aber wie er es ausspricht, es klingt gewichtig. Sie senken die Waffen und helfen dem Engel mich weiterzutragen.

Weit hinter uns ragt die graue Mauer auf.

Mein Kopf schlägt unsanft gegen seine Brust. Ich spüre seinen regelmäßigen festen Herzschlag.

Nur mit Mühe halte ich meine Augen offen.

Drei Wochen später.

Ich schrecke aus dem Schlaf.

Mein Herz pumpt schnell, viel zu schnell.

Ich nehme das Glas Wasser von dem Nachttisch und trinke einen großen Schluck.

Kalt fließt es durch meinen Hals und langsam wird meine Atmung ruhiger.

Ich lasse mich zurück in die Kissen sinken.

Meine Augen fokussieren einen Punkt an der Betondecke. Bloß nicht wieder daran denken.

Lieber denke ich an gestern Vormittag. Dass die Beete, die ich umgraben musste, getränkt mit Wasser war, dass ich mit vollem Magen in den Tag gestartet bin und mit vollem Magen den Tag beendet habe, dass mir die Sonne nicht die Haut verbrannt, sondern warm auf mich herunter schien.

Ich schlafe nicht mehr ein.

Liege mit offenen Augen zwei Stunden lang im Bett. Die künstliche Sonne schickt ihre Strahlen durch das kleine Fenster.

Ich halte es nicht mehr aus!

Meine Füße berühren den kalten Holzboden.

Ich laufe zu dem Stuhl mit dem Stapel Kleidung und ziehe sie an.

Das braune Hemd trägt die gleiche Farbe, wie auch die anderen Klamotten.einfach und schlicht, aber um Längen besser, als meine zerrissenen Hemden, mit denen ich hier ankam.

Eine Packung Tabletten fällt aus dem Stoff.

Das gequälte Lachen von ihnen schallt noch immer in meinen Ohren.

Angewidert stopfe ich den Tablettenregister unter meine Matratze in der Hoffnung dort könne ihn niemand finden.

Die Flure sind leer.

Noch.

Ich nehme den Weg zu der Kantine. Der Duft von Frischen Brötchen steigt mir in die Nase.

Ich wünsche, ich könnte deswegen lächeln.

Stille liegt über dem Saal. Die meisten Bewohner von Eden schlafen noch oder haben eine Arbeitsschicht.  

Ich setze mich nahe der Fenster und schneide mir ein Brötchen auf.

Hinter der Glasscheibe erstrecken sich weite grüne Felder und Wälder. Wasserfälle stürzen von steinernen Vorsprüngen und ich meine Vögel zwitschern zu hören.

Alles Illusionen. Außer die Felder, denn die sind zum überleben wichtig.

Doch Wasserfälle gibt es hier keine echten. Wasser ist immer noch viel zu wertvoll, um es dekorativ zu nutzen. Wir brauchen es für die Pflanzen und für uns. Und damit reicht es auch.

Um mich herum füllen sich langsam die Tische.

Ich stehe auf, nicht bereit mich ihren Blicken auszusetzen, die mich verfolgen.

In ihren Augen herrscht Leere, doch ihre Lippen lächeln.

Eine Gänsehaut jagt über meinen Rücken und ich bin froh die Pillen nicht genommen zu haben.

Auch bei den Gemüsefeldern erwartet mich einsames Schweigen.

Ich nehme mir eine der braunen Schürzen, einen Korb und eine Schaufel.

Der grobe Stoff der Schürze kratzt auf der Haut.

Barfuß laufe ich über die Erde. Sie kühlt meine Füße und die Schrammen und Schwielen auf der Haut.

Am Rand des Feldes fange ich an. Die Kartoffeln müssen ausgegraben werden.

Ich bin zur Hälfte mit der Arbeit fertig. Erst da kommen Andere dazu. Um mich herum wird gelacht und geredet. Als ich aufschaue sehe ich eine junge Frau. Sie lacht auch, doch es wirkt angestrengt und in ihren Augen schimmern Tränen. Sie wischt schnell darüber und wirft den Aufsehern am Rand des Feldes einen Blick zu in der Hoffnung, sie haben die Tränen nicht gesehen. Ich wende mich nicht ab. Ich muss mir dieses Bild einprägen, um niemals zu vergessen, wie ich auf keinen Fall werden möchte.

Zwei Wochen zuvor.

Ich laufe durch die einsamen Flure.

Alle schlafen noch.

Plötzlich ertönt ein lauter Schrei, schallt von den Wänden wieder und windet sich durch meine Ohren.

Er ist voller Qual.

Besorgt laufe ich in die Richtung, aus der er kommt.

Ich bleibe abrupt stehen, als ich das rote Schild sehe, das mir das Weitergehen verbietet.

Ich schüttele den Kopf und laufe daran vorbei. Da ist jemand, der Hilfe braucht.

Die Tür ist einen Spalt offen.

Der Schrei ist inzwischen leiser geworden.

Ich sehe durch den Spalt und zucke erschrocken zurück.

Da liegt jemand auf einer Liege. Am ganzen Körper blutend. Um die Liege herum stehen die in schwarz gekleideten Aufseher. Mit Peitschen in der Hand.

Der Arm des einen Aufseher saust auf den Körper herab.

Ein Knallen hallt durch die Gänge. Die Person auf der Liege wimmert nur noch.

Ich will die Tür aufstoßen. Das ist grausam und unmenschlich!

Eine Hand legt sich über meinen Mund und zieht mich weg von der Tür.

Erst einige Gänge weiter nimmt die Gestallt ihre Hand von meinem Mund und lässt mich los.

Ich drehe mich um.

„Addion!“

Der Engel, der mich gerettet hat. Auch wenn er sagt, er seie nicht wirklich ein Engel.

„Ava!“

„Warum hast du mich weggezerrt? Ich hätte helfen müssen!“

„Das hätte deinen Tod bedeuten. Niemand von denen will unerwünschte Zeugen.“

„Und du sprichst aus Erfahrung?“ Ich bin so wütend.

„Ava, der Mann dort auf der Liege hat sich geweigert die Emotions-Tablette zu nehmen! Und sie wollen keine Systemsprenger hier.“

Ich atme laut aus.

„Bitter Ava, versprich mir, dass du niemals davon erzählst!“

„Das kann ich nicht.“

„Und nimm niemals eine der Tabletten. Bitte!“

Ich wende mich ab.

Die Schrei sind verklungen.

Aber in meinen Ohren hallen sie weiterhin.

Wütend balle ich meine Hände zu Fäusten.

Jetzt.

Die Einsamkeit erdrückt mich, sie erdrückt mich schon seit dem ersten Tag hier in Eden.

Ich bin anders als sie alle.

Auch nur ein Mensch, der Schutz und Frieden gesucht hat, immer noch sucht, aber einer der noch frei entscheiden kann, ob er traurig oder glücklich ist.

Das Abendessen verbringe ich überraschenderweise nicht alleine.

Addion setzt sich zu mir.

„Hey Ava.“

Ich versuche zu lächeln.

„Hallo.“

Mit Sorge in den Augen mustert er mich.

Ich seufze und lasse meinen Blick durch die Cafeteria schweifen. Die wenigen, die sich trauen zu mir zu schauen, wenden sich schnell ab, sobald sich unsere Blicke treffen.

Addion grinst breit, aber ich sehe, das es nicht ganz ehrlich ist. Er ist bei weitem kein so guter Schauspieler, wie er denkt zu sein.

„Ava darf ich dich etwas fragen? Warum bist du hergekommen?“

Seine Frage verwirrt mich.

„Ich hatte zu großen Durst nach Wasser und danach richtig zu leben. Ich wollte Frieden für mich finden. Auch wenn das hier kein echtes Leben ist.“

Das gefälschte Lachen schwillt in meinen Ohren an bis es unerträglich wird.

Ich will aufstehen.

Addion packt mich am Arm.

„Ava, denk mal darüber nach. Vielleicht findest du deinen Frieden nicht an Orten wie diesen, sondern bei Menschen, die du liebst. Freunden oder Vertrauten. Du könntest wieder von hier verschwinden! Ich würde dir helfen!“

Ich schüttele seine Hand ab.

„Das ist doch Schwachsinn.“

Ich erinnere mich an die leidenden Schreie.

„Schwachsinn.“, bestärke ich mich und laufe davon.

Am nächsten Abend laufe ich durch den Flur vor meinem Zimmer.

Meine Tür steht offen.

Etwas fühlt sich falsch an.

Vorsichtig betrete ich mein Zimmer.

Die Schubladen meines Nachtischchens sind herausgezogen und die Matratze ist aus dem Bett gerissen.

Verdammte Scheiße!

Ich renne zum Bett.

Wie zu erwarten sind die Tabletten weg.

Die Peitschenhiebe knallen in meinen Erinnerungen.

Mit zitternden Händen lege ich die Matratze zurück auf das Bettgestell und schiebe die Schubladen zurück in den Schrank.

Ich hole meinen Rucksack unter dem Bett hervor und greife in das kleinen Fach an der Rückenseite.

Es ist noch da.

Ich falte das Foto auseinander.

Der damals noch kleine Junge grinst mir davon entgegen.

Eigentlich hatte ich die Hoffnung schon längst aufgegeben, aber vielleicht …

Freunde und Vertraute denke ich.

Und Familie.

Ich fülle vier Wasserflaschen und stopfe sie zu meiner alten Kleidung in den Rucksack.

Dann ziehe ich die Atemmaske heraus.

Ich muss mich beeilen. Bald werden sie mich holen kommen um auch mich Schreien zu lassen.

„Addion.“ Er sieht meinen Rucksack und die Atemmaske in meiner Hand.

„Sie haben herausgefunden, dsas ich Tabletten nicht nehme.“

Er nickt.

„Du hast gesagt, ich hätte bestimmt Freunde oder Vertraute. Ich habe eine Familie, einen Bruder.“

Addion lächelt, holt einen Rucksack und seine Atemmaske hervor.

„Ich bin bereit.“

Die Mauer ist riesig.

Der Sand dahinter weht in großen Wolken über den Wüstenboden.

Ich bin wieder am Anfang.

Weit hinter uns schreien Aufseher.

Viel zu weit weg sind sie.

Addion und ich nehmen uns bei der Hand und zusammen treten wir durch das Offene Tor.

„Addion du bist irgendwie schon ein Engel!“

Er grinst.

„Para el verdadero paradise!“

Für das wahre Paradies!